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Wie moderne medizinische Forschung bei komplexen Erkrankungen funktioniert – am Beispiel Multiple Sklerose.
Die beiden wesentlichen Schlagwörter für die Arbeitsweise in der neurologischen Forschung sind „Translationalität“ und „Verbund“. Prof. Dr. Ralf Linker, Inhaber des Lehrstuhls für Neurologie an der Universität Regensburg, erklärt dies am Beispiel Multiple Sklerose (MS).
Bei allen Erkrankungen, bei denen es keinen eindeutigen Zusammenhang, sondern eine Vielzahl an (möglichen) Ursachen gibt, bewährt sich auf der Suche nach Therapien das vernetzte Arbeiten in Wissenschaft und Krankenversorgung. Prof. Dr. Ralf Linker, Inhaber des Lehrstuhls für Neurologie an der Universität Regensburg und Ärztlicher Direktor der Neurologischen Klinik an der medbo Regensburg, ist nicht nur Experte für Multiple Sklerose, sondern als klinischer Forscher auch Teil der internationalen Forschungs-Community.
Viele Perspektiven
Erkenntnisgewinn in der Neurologie sei ein Prozess, der viele Impulse brauche, so Prof. Linker. Im translationalen Forschungsansatz werde versucht, diesen Prozess vom reinen Modell bis zur klinischen Studie am Patientenbett in fachlich breit aufgestellte Kooperationen zu integrieren. „Man kann sich translationales Arbeiten wie ein Spinnennetz mit vielen Fäden, Strängen und Verbindungen vorstellen: Wenn irgendwo in unserem großen MS-Netzwerk, das beispielsweise von der Stanford University in Kalifornien bis hin zum Karolinska Institute in Stockholm reicht, eine ‚Fliege‘ ins Netz geht, dann wackelt es auch sofort in Regensburg“, erläutert er. Alle bearbeiteten das Thema MS unter einer anderen Perspektive, teilten aber Erkenntnisse und Ideen so schnell wie möglich: ob Neurologen, Immunologen, Genetiker, Biochemiker, selbst Statistiker und Mathematiker, und etliche weitere Disziplinen. Das macht Sinn. Denn im Grunde ist die Multiple Sklerose nicht eine einzige Erkrankung, sondern ein Syndrom: Sie habe „tausend Gesichter“, vermutlich mehrere mögliche Auslöser und etliche noch nicht abschließend erforschte Wirkzusammenhänge, so Linker.
Das Gesetz der großen Zahl
Beim konsortialen Ansatz, das heißt bei der Forschung im zeitlich begrenzten Verbund, gehe es nach Prof. Linker nicht zuletzt um Statistik. In der Neurologie, die sich häufig mit schwer abgrenzbaren Symptomkomplexen und seltenen Erkrankungen beschäftige, sei dies eine echte Hürde. Denn nur wenn eine genügend große Zahl an „Fällen“ unter einem bestimmten Aspekt untersucht oder durch möglichst alle Stadien einer Erkrankung klinisch-wissenschaftlich begleitet würde, sei valider Erkenntnisgewinn möglich, würde aus reiner „Klinik“ Leitlinien-Medizin. „Unsere Forschungs-Community findet Probanden und Fälle sozusagen weltweit, indem wir uns als Universitätsklinika und Forschungsinstitute zusammentun, gegenseitig unterstützen und austauschen“, so Ralf Linker, der selbst Vorstandsmitglied des deutschen Kompetenzzentrums Multiple Sklerose ist. Der medbo Standort Regensburg ist unter seiner Leitung als großes nationales MS-Zentrum anerkannt und ein wichtiger Partner verschiedener MS-Forschungskonsortien.
Translationale Konsortien und die „1.000 Gesichter“ der MS
Die Multiple Sklerose ist die häufigste neurologische Erkrankung junger Erwachsener nach den Schädel-Hirn-Traumen. Dennoch ist sie vergleichsweise selten. In Deutschland sind circa 240.000 Patienten in Behandlung, an der medbo sind es jährlich etwa 1.400. Sie tritt vor allem im jungen Erwachsenenalter erstmals auf und ist bislang nicht heilbar. Die Therapietaktik der Wahl ist Symptombehandlung und Verzögerung des Krankheitsfortschritts, was auch in aller Regel gut gelingt.
„Aber als Mediziner möchte ich heilen können“, sagt Prof. Linker. Die Frage, welche Mechanismen genau für den Degenerationsprozess ausschlaggebend sein könnten, bleibt zentral. Bei der Multiplen Sklerose werden die Myelinscheiden, die quasi eine Isolierschicht um die Fortsätze der Nervenzellen bilden, kurz gesagt „löchrig“. Die betroffenen Nerven liegen „blank“. Die Folgen für die Betroffenen reichen beispielsweise von Seh- und Gefühlsstörungen, Erschöpfung bis hin zu Lähmungen. Liegt das primäre Problem vielleicht in den Trägerstrukturen im Gehirn, den Gliazellen? Oder im Immunsystem, etwa durch gestörte Autoimmun-Prozesse? Welche Rolle spielen körpereigene Stoffe wie Hormone, welche Stress oder Umwelteinflüsse? Wie gelingt der jeweilige Nachweis?
Bei der MS sind mehrere mögliche Ursachenfelder bekannt, wenngleich noch nicht alle. „Wir wissen aus Zwillingsstudien, dass die genetische Prädisposition eine wichtige Rolle spielt. Wenn bei eineiigen Zwillingen einer eine MS entwickelt, so hat der andere Zwilling statistisch ein etwa 30-prozentiges Risiko, ebenfalls zu erkranken“, so Prof. Linker.
Ralf Linker und sein Team beschäftigen sich in Regensburg stark mit einem anderen Aspekt: der Ernährung. Welche Rolle spielt das Verdauungssystem, allen voran der Darm? Im Fokus stehen vor allem die Stoffwechselprodukte bestimmter Milchsäurebakterien und deren Auswirkungen auf menschliche Nervenzellen. Können sie zum Beispiel autoimmunologische Prozesse an bestimmten Stellen im Nervensystem befördern oder hemmen? Könnte man mit entsprechenden Nahrungsergänzungsmittel arbeiten – vielleicht sogar mit Joghurt? Prof. Linker: „Da haben wir aber noch ein ganzes Stück Weg zu gehen!“
Epstein-Barr: Kleines Virus, große Hoffnung
Neben der Heilung der MS ist auch die Suche nach vorbeugenden Maßnahmen eine Option, der die Wissenschaft nachgeht. Aktuell bekommt hier das Epstein-Barr-Virus (EBV) große internationale Aufmerksamkeit. Bereits seit geraumer Zeit vermuteten Fachkreise, dass das EBV eine der wesentlichen Ursachen der Multiplen Sklerose sein könnte. Dieses Virus aus der Herpes-Familie ist weit verbreitet, bis zum 30. Lebensjahr infizieren sich circa 95 % aller Menschen damit. Neueste Studienergebnisse, veröffentlicht im Fachmagazin „Science“, stellten ein um das tatsächlich 32-fache erhöhtes Risiko fest, über eine Infektion mit Epstein-Barr später eine MS zu entwickeln. Ein Paukenschlag!
Auf diese Spur kamen Wissenschaftler der Harvard University Cambridge (USA) um Prof. Alberto Ascherio, indem sie auf den Untersuchungen einer anderen großen Studie aufsetzten: Die Harvard Chan School of Public Health (USA) untersuchte zwischen 1993 bis 2003 regelmäßig eine riesige Kohorte – 10 Millionen junge US-Soldaten. In dieser Zeit entwickelten 955 der Probanden eine MS. Über die damals entnommenen Blutproben konnten die Wissenschaftler aus Cambridge einen Zusammenhang zwischen EBV und MS nachweisen. Bis auf einen hatten alle Probanden nicht nur EBV-Antikörper im Blut, sondern noch dazu in einer besonders hohen Konzentration. Die Infektion mit Epstein-Barr scheint zwar keine hinreichende – sprich: alleinige – Voraussetzung zur Entwicklung einer MS zu sein, aber hochwahrscheinlich eine notwendige.
Prophylaxe als neuer Ansatz?
Spannend! Denn die logische Folgerung wäre: ohne Infektion mit Eppstein-Barr kein oder wenigstens ein substantiell geringeres MS-Risiko. Dann könnte eine Impfung gegen EBV einer Multiplen Sklerose im großen Stil vorbeugen.
Im Fokus der Wissenschaft steht der genaue Wirkzusammenhang zwischen EBV und der MS. Hier sind vor allem die Immunologen und Zellbiologen gefordert, die klären müssen, wie die Infektion im Körper und in den Zellen abläuft. Zum anderen sind die Genetiker gefragt, denn sie müssen klären, welche Abschnitte der Erbinformation in den Viren ausschlaggebend sind und wie wiederum die degenerativen Prozesse an den Myelinscheiden der Nervenenden im menschlichen Gehirn dadurch getriggert werden.
Aber wie könnte eine Impfung funktionieren, wenn der Impfstoff nicht massenhaft, sondern gezielt verimpft wird? Wenn er passend zur komplexen Erkrankung MS fallweise maßgeschneidert werden müsste? Ralf Linker: „Auch hier wird schon geforscht. Stichwort mRNA – also Boten-Ribonucleinsäure. Kennen wir ja alle inzwischen von der Corona-Impfkampagne. Diese Impftechnologie könnte auch in Sachen EBV ein Gamechanger sein.“ Die großen mRNA-Pioniere unter den Biotech-Unternehmen sind dran. Kein Wunder, denn auch die Pharmakologen gehören zum großen translationalen MS-Forschungsverbund – und der Regensburger Wissenschaftler Ralf Linker kennt sie alle.